Sonntag, 7. Dezember 2008

Die Frage nach der Leidensfähigkeit

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Es mangelt in dieser Gesellschaft nicht nur an Empathie, sondern auch am Wissen um simple biologische Zusammenhänge.
Grundvoraussetzung für "Glück" und "Leid" ist ein zentrales Nervensystem und das damit einhergehende Bewusstsein, sowie der der Umstand, dass unter diesen Voraussetzungen jede höher entwickelte Spezies über Glückshormone und das negative Pendant (Stresshormone, Adrenalin) verfügt.
Ich frage mich, warum solche Informationen im Biologieunterricht nicht ausreichend vermittelt werden.
Hängt wohl mit dem daraus resultierenden schlechten Gewissen einer unveganen Gesellschaft zusammen.

Man sollte Menschen nicht "vertierlichen" und so tun, als seien sie Opfer ihrer Instinkte.
Und wenn doch, wenn Menschen sowas nicht von selber raffen, wenn sie nicht die geistigen Voraussetzungen mit sich bringen, sich in andere Lebewesen hineinzufühlen, warum sollte man sie dann nicht als Nahrungslieferanten züchten, halten, ausbeuten und schlachten?

Die Frage nach der Leidensfähigkeit von Pflanzen und Tieren kommt immer wieder auf.
Was wäre, wenn ein Kohlkopf genauso leidet, wie ein Kalb?
Dann wäre es ja schon mal ziemlich dämlich, Tonnen pflanzlicher Ressourcen in ein paar Kilogramm Tierleid zu verwandeln.

Ich hatte eine interessante Diskussion zum Thema "Leidensfähigkeit", die exemplarische Fragen aufwarf und mir die Chance gab, sie zu beantworten.

C.:
Selbst kleinste Copepoden drängt es zum Licht, sie fliehen vor Fressfeinden oder lebensfeindlichen Zonen im Wasser, und wenn sie gefangen werden winden sie sich verzweifelt im Todeskampf - nicht viel anders als höher entwickelte Tiere.
Fluchtverhalten (das wir als Angst interpretieren) und auch der Versuch sich aus den Fängen des Räubers zu befreien (also Schmerz beim Gefressen werden, Lebenswille) ist schon bei diesen kleinsten Tieren vorhanden und hat mit bewusstem Erleben nicht viel zu tun. Bei diesen Tieren können wir uns problemlos vorstellen, dass Reiz und Reaktion ohne ein Bewusstsein funktioniert - ähnlich wie ein Roboter weinen, lachen und "aua" schreien kann, wenn bestimmte Knöpfe gedrückt werden.

Nein, so funktioniert das nicht.
Schmerz und Angst sollen vor Gefahren warnen. Sie sind also für so ziemlich jede Lebensform, die flucht- und reflexfähig ist, als unangenehm zu betrachten.
Und das, was Angst und Schmerz als unangenehm bewertet, ist das Bewusstsein.
Hirn, Augen, Nervensystem... Das sollte für ein Bewusstsein reichen.
Die Quantität an Nerven und Intelligenzpotenzial erhöht logischerweise das Bewusstseinspotenzial.


C.:
Schmerz oder Angst sind nicht von Nöten, um Gefahren auszuweichen oder Gefahren zu erkennen. Lediglich Flucht- und Ausweichverhalten, die auf bestimmte Reize folgen.

Du übersiehst, dass es belohnende und warnende Reize gibt.
Warnende Reize dürfen nicht angenehm sein, sonst würde kein Fluchtverhalten einsetzen, sondern das Lebewesen würde sich zur Gefahr hingezogen fühlen.
Und auch bei "primitiven" Lebensformen wird sich der Fortpflanzungsakt durch belohnende Reize bestätigen.
Das eine ist der Antrieb, das andere ist die Bremse.

C.:
Ein Hund, dem man das Rückenmark durchtrennt hat, zuckt auch noch mit der Pfote wenn diese verletzt wird.
Querschnittsgelähmte Menschen können ihre abgetrennten Rückenmarksbereiche konditionieren, weil auch in diesem abgetrennten System noch Prozesse ablaufen können, die wir als Angst beschreiben würden. Völlig ohne Bewusstsein oder unangenehmen Empfindungen.

Wenn diese Aussagen allgemeingültig wären, hätten viele Kranke weniger Probleme.
Bemerkenswert ist, dass Du als Beispiel Tiere und Menschen aufführst, die ihre Fluchtfähigkeit verloren haben.
Haben sie deshalb auch weniger Angst?
Sie wurden als fluchtreflexfähige Tiere geboren!
Das Potenzial ist wesentlich, nicht die Situation in der sich das Individuum befindet.


C.:
Zu deiner Annahme, immobile Tiere haben keine Schmerzen:
Wie sieht das bei sessilen Schnecken und Krebsen deiner Meinung nach aus?

Noch mal:
Die Quantität an Nerven und Intelligenzpotenzial erhöht logischerweise das Bewusstseinspotenzial.
Hirn, Augen, Nervensystem...
Seeanemonen haben kein Gehirn.
Dort, wo lediglich ein vegetatives Nervenzentrum vorhanden ist, bleibt auch der Belohnungseffekt aus.

C.:
Verstehe nicht, was du damit meinst.

Mit dem Belohnungseffekt?
Na, wenn ein Lebewesen Nahrung braucht und sich diese nicht wie ne Koralle aus dem Wasser filtert, muss es danach suchen, jagen, etc.
Damit es das tut, erfolgt ein Warneffekt namens "Hunger" und danach der Belohnungseffekt (Sättigung).
Gilt auch für Fortpflanzung, Lichtaufnahme, freien Raum und freie Zeit, etc...
Hunger, Geilheit, Angst und Schmerz wären sinnlos, wenn sie subprogrammatisch ablaufen würden.
Das Bewusstsein muss reagieren und das tut es nur durch Belohnung und Warnung.

C.:
Es geht einzig und allein um die Tatsache, dass ein System auch ohne Bewusstsein so agieren kann, dass wir eins vermuten.
Wenn wir einen Hund an der Pfote verletzen, der nix spürt, dann reagiert die Pfote trotzdem auf den Reiz als hätte sie Schmerzen. Was uns allerdings nicht vermuten lässt, dass die beteiligten Nerven ein separates Bewusstsein entwickelt hätten.

Na und? Du kannst diesem Hund problemlos die komplette Pfote entfernen, wenn Du ihm die Augen zuhältst und er wird nicht darunter leiden.

C.:
Ein Blumentier empfindet also bewusst Schmerz, aber weniger bewusst als ein Hund.
Wie kann man sich bei einem Schmerzreiz weniger oder mehr bewusst sein?
Die Heftigkeit der Reaktion ist bei beiden gleich.

Der Hund hat ein wesentlich höher ausgeprägtes Nervensystem und ein Gehirn.
Er interagiert komplexer, kann fliehen, kann winseln und vermissen...

C.:
Weder winseln noch vermissen beeinflusst unser Schmerzempfinden im Moment des Schmerzreizes.
Ich fragte nach dem konkreten Unterschied der Wahrnehmung, falls man davon ausgeht das Blumentiere bewusst sind, aber weniger bewusst als Hunde.

Parallel mit dem, was der Hund dem Blumentier an ausgeprägterem Nervensystem plus Gehirn voraus hat, leidet er auch psychisch stärker, als das Blumentier, wenn er physisch verletzt wird.
Definiere Leid nicht nur über physische Aspekte!

C.:
Ahja.
D.h. ein Mensch leidet auch mehr als ein Tier, weil er nicht nur den physischen und psychischen Schmerz während der Verletzung erfährt, sondern darüber hinaus noch lange Zeit über dieses schmerzhafte Ereignis nachdenken kann, und sich dabei sein Leid immer wieder vor Augen führt?

Nein. Auch nichtmenschliche Tiere können traumatisiert werden.
Aber ich denke, dass Menschen allein durch ihre Fähigkeit zum Selbstmitleid ihr Leid um einiges erhöhen...


Ende der Diskussion

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Der cerebrale Cortex Besteht aus vier Lappen und Assoziationsfeldern, die zwischen den wichtigsten sensorischen und motorischen Feldern liegen und den Input aus diesen Feldern integrieren und verarbeiten.
• Okzipitallappen: Verarbeitung visueller Information.
• Temporallappen: Gedächtnis, visuelle Erkennung, Verarbeitung von Emotion und akustischer Information.
• Parietallappen: Räumliche Verarbeitung und Integration des sensorischen Inputs mit den im Gedächtnis gespeicherten Informationen.
• Frontallappen: Verhaltensorganisation, Planung. Steuerung.


Wir müssen den Tieren nicht nur in die Augen schauen, um zu erkennen, dass sie leiden, wir können dafür auch einfach unser Gehirn benutzen.
Natürlich sind auch Insekten leidfähig, doch sie sind es ganz offensichtlich in geringerem Maße, als höher entwickelte Tiere und deshalb sollte man sie nicht miteinander aufwiegen.
Instinktiv sind wir uns darüber im Klaren.
Wer bekommt Depressionen oder Schuldgefühle, wenn Ameisen den Weg kreuzen?
Wer bekommt einen Nervenzusammenbruch, wenn er massenhaft tote Mücken auf einer Windschutzscheibe sieht?
Und wer denkt beim Rasenmähen an ein "Massaker"?

Da Pflanzen noch weniger über oben genannte Merkmale verfügen, erübrigt sich insofern auch die ewig gestellte Frage nach dem Leid der Kohlköpfe.
Es gibt eine evolutionäre Abstufung der Leidensfähigkeit und an dieser müssen wir uns orientieren, wenn es darum geht, nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln.


Mit bestem Dank und Grüßen an C.,
Schlunz


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